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Ein Fenster in die Zukunft der Menschheit

Die Schrumpfung der Welt auf die rasende digitale Gegenwart ist an einer Grenze angekommen. In den Krisen der Gegenwart beginnt die Wiederentdeckung der “tiefen Zukunft”. Dazu dient eine Uhr, die mindestens zehntausend Jahre lang schlagen soll. Und uns auf neue Weise mit dem Morgen verbinden kann.

1. Die Uhr des Langen Jetzt

In einem entlegenen Winkel in den Bergen von Texas wird derzeit das wohl spannendste Projekt der heutigen Zukunftsforschung realisiert. In einer künstlichen Höhle am Ende eines 200-Meter-Schachts entsteht eine 30 Meter hohe mechanische Uhr, die zehntausend Jahre lang ticken wird.
Mindestens. Vielleicht werden es auch 100.000 Jahre.

Einmal im Jahr ertönt ein kleines Klingeln.
Einmal im Jahrzehnt ein Läuten.
Einmal im Jahrhundert ein Glockenspiel.
Am Ende jedes Jahrtausends ein GONG.

Blick aus den Bergen von Texas: Hier wird die „Uhr des Langen Jetzt” in einen Stollen eingebaut

Bauarbeiten an der 10.000-Jahre-Uhr

Besucher sollen ab 2022 die Uhr durch ein Jadestein-besetztes Tor betreten und eine Wendeltreppe emporsteigen können. Vorbei an 2-Meter-Zahnrädern, riesigen Gegengewichten und Pendeln von 4 Tonnen Gewicht. Wenn die Besucher auf einer Plattform im oberen Bereich ange­langt sind, können sie den Aufzugs-Mechanismus der Uhr betätigen. Dann ertönt eine von 3,6 Millionen Geläut-Kompositionen des Musikers Brian Eno. Aber das mechanische Aufziehen ist nicht unbedingt nötig. An der Spitze des gigan­tischen Mechanismus befindet sich eine Kuppel aus Saphirglas, die die Uhr mit thermischer Energie versorgt und sie mit der Sonnenstellung synchronisiert.
Auch wenn niemand mehr käme, um die Uhr zu besuchen, wird sie weiterticken.
In zehntausend Jahren soll sie nur wenige Sekunden falsch gehen.
Aber wer wird das überprüfen?
Und was wird dann sein?

Die „Clock of the Long Now“ ist ein Mental-Experiment zwischen Kunst, Meditation und spiritueller Provokation. Verantwortlich für das Projekt ist die „Long Now Foundation“, eine Stiftung, die sich kurz vor der Jahrtausendwende gründete und die Zukunft sozusagen „nach vorne erweitern“ will. Zu den Gründern gehören die Internet-Visionärin Esther Dyson, die Zukunfts­forscher Stewart Brand, Paul Saffo, Peter Schwartz und Kevin Kelly. Dazu Brian Eno, der Konzept-Musiker, der sich in seinen Werken immer wieder mit den großen Fragen von Raum und Zeit aus­einander­setzte. Ein großer Teil der Finanzierung wurde von Amazon-Gründer Jeff Bezos erbracht. Bezos sagte dazu: „In der Lebenszeit dieser Uhr werden ganze Zivilisationen entstehen und zerfallen.“

Wenn man diesen Satz aus dem Mund des größten Plattform-Tycoons der Welt hört, wird einem tatsächlich ein bisschen mulmig.
Das Experiment hat aber auch eine ganz praktische Seite. Wie baut man eine mechanische 10.000-Jahre-Uhr? Der „Erfinder“ ist der Ingenieur und KI-Computerspezialist Danny Hillis.
„Ich wollte ein Symbol für die Zukunft schaffen“, sagt Hillis. „So wie die Pyramiden ein Symbol für die Vergangenheit sind. Ich begann, mich für die großen Zusammenhänge, die ‚Big Connections‘, zu interessieren. Und so kam ich auf die Uhr.“
Video: https://vimeo.com

2. Das Rasende Jetzt

In welcher Zeit leben wir?
In einer Endzeit, sagen viele. »Der Mensch« ist dabei, in großem Stil zu versagen. Sich selbst zu vernichten. An seinen selbstgemachten Problemen zu scheitern.

In einer gloriosen Beschleunigungs-Zeit, sagen andere. Die rasende Akzeleration der Technik wird uns »demnächst« von allen Nöten und Problemen befreien. Künstliche Intelligenz wird klüger sein als wir selbst. Quanten-Computer führen zu unendlicher Produktivität und Komfortabilität.

Aber in Wahrheit leben wir weder in einer Endzeit noch einer technischen Erlösungs-Zeit. Sondern in einer rasenden Schrumpfzeit, in der die Wirklichkeit auf einen einzigen glühenden Punkt zusammengeschnurrt ist.
Das Radikale Jetzt.
Der „event horizon“ unserer hypermedialen Kultur ist auf eine ständige Befindlichkeitsübung geschrumpft. Wie gehts mir heute? Was gibt es zu beklagen, zu befürchten und zu vermeinen? Ist schon Weltuntergang? Worüber kann ich mich aufregen? Wir sind gefangen im Dringlichkeits-Wettrüsten, wie die amerikanische Publizistin Jenny Odell das nennt. Die Angst und Panik, die um irgendetwas kreist, was man morgen schon vergessen hat, strukturiert unser Zeitgefühl.
Alles wird Shitstorm.
Alle Information gerät zum Clickbaiting.
Das Unbedeutende wird gigantisch. Das Wichtige verschwindet.
Wir leben in der Twitterkratie.
Der Anomalie der Gegenwart.
Auf diese Weise verschwindet die Zukunft.

Die Gefahr des totalen Jetzt: www.sueddeutsche.de

Man kann den Blick abwenden, die Aufmerksamkeitskannibalen und die Provokateure des Tages ignorieren, um sich dann in einer von Krisen geschüttelten Zeit einer einzigen, tatsächlich dramatischen Frage zuzuwenden: Was ist wirklich wichtig?
Bernhard Pörksen

3. Pace Layering: Das Modell der Wandel-Schichten

© Stewart Brand

Einer der zentralen Gründungsmitglieder der Long-Now-Foundation ist Stewart Brand. Er gehört zu jenen New-Age-Aktivisten, die vor fast einem halben Jahrhundert begannen, für die große Bewusstseinsveränderung zu kämpfen. Brands erste spektakuläre Aktion war eine Kampagne zur Freigabe des „Blue-Marble“-Fotos – der ersten hochauflösenden Fotografie der blauen Erde, aufgenommen im Jahre 1972 von einer Hasselblad-Kamera in einer Apollo-Kapsel. Stewart schaffte es, die Rechte für dieses ikonographische Bild von der NASA freizubekommen. Es prangte später auf dem Cover seines Whole- Earth-Katalogs, eine Art Aktionsbibel der Hippie-Bewegung (und ein analoger Vorläufer von Google). Und auf unzähligen T-Shirts, Plakaten, Postern. Es war das Symbol für den Weltethos – und eine Gründungs-Chiffre der Ökologiebewegung.

In den 80ern gründete Stewart die Zeitschrift CO-EVOLUTION, später die erste Online-Community, „The WELL“. Er verließ das Internet wieder, als es sich kommerzialisierte, und initiierte das „Global Business Network“, einen multidisziplinären Zukunfts-Think Tank, der das Zukunftsinstitut stark inspiriert hat.

Heute lebt der Mittachziger mit seiner Frau auf einem Hausboot. Einer von Stewarts Slogans lautet: “We are as gods – and might as well get good at it.”
Wir sind wie Götter – und könnten auch gut darin werden. Das klingt ein bisschen großspurig. Ist aber auf ironische Weise sehr bescheiden gemeint. Parallel zur Entwicklung der Uhr des langen Jetzt hat Stewart Brand ein Zeit-Wandel Modell entwickelt. Er nennt es das PACE LAYER-Modell – das Geschwindkeits-Ebenen-Modell. Oder das „Mehrschichtenmodell des Wandels“.

© Stewart Brand

Hier seine Erklärung:

Es ist sinnvoll und realistisch, sich eine Zivilisation als etwas vorzustellen,das gleichzeitig in verschiedenen Geschwindigkeiten funktioniert.
Mode und Wirtschaft verändern sich schnell.
Wie es sein soll.
Natur und Kultur ändern sich langsam.
Wie es sein soll.
Infrastruktur und Politik begleiten beides in einem mittleren Tempo.
Aber weil wir uns vor allem auf die sich schnell verändernden Elemente konzentrieren, vergessen wir die wahre Kraft in den Sphären der langsamen, tiefen Veränderung.

© Stewart Brand

4. Die Klänge des Wandels

Normalerweise konstruieren wir »Zukunft« im Kopf als eine homogene Zeit-Zone. Der Zukunftsforscher Alvin Toffler sprach schon in den 80er Jahren vom Phänomen des Zukunfts-Schocks: Wir wachen irgendwann im Morgen auf – und ALLES ist komplett anders. So wie in einem Science-Fiction-Film, in dem plötzlich alle mit 3-D-Brillen herumlaufen, in Flugautos fliegen und sich Hochhäuser aus Metall kilometerweit in den Himmel recken.
Aber vielleicht ist das eher eine Kleine-Jungs-Vorstellung. Die Zukunft wird nicht »homogen«, sie wird »multitemporär« – wie unsere Gegenwart auch. Denn sie ist das Resultat unterschiedlicher Geschwindigkeiten, in denen Altes und Neues sich ständig vermischen.

Das Schnelle lernt, das Langsame erinnert sich.
Das Schnelle schlägt vor, das Langsame entsorgt.
Schnell ist disruptiv, Langsam ist kontinuierlich.
Das Schnelle und das Kleine instruiert das Langsame und Große. Durch Innovationen und gelegentliche Revolutionen.
Schnell bekommt alle unsere Aufmerksamkeit. Langsam aber hat alle Macht.
Fast learns, slow remembers. Fast proposes, slow disposes. Fast is discontinuous, slow is continuous. Fast and small instructs slow and big by accrued innovation and by occasional revolution. Slow and big controls small and fast by constraint and constancy. Fast gets all our attention, slow has all the power.
Stewart Brand, How complex systems learn und keep learning.

Können Sie sich noch erinnern, wie man sich in den 80er Jahren das »Jahr 2000« vorgestellt hat? Alles sollte von da an ganz anders sein, utopisch und wahnsinnig technisch. Aber dann kam 9/11, die ethnischen Kriege in Jugoslawien, ein Kalifat in Syrien…

Das Internet, dieser sagenhaft-utopische Vorwärts-Raum, hat uns neue Verrücktheiten und mittelalterliches Rückwärtsdenken beschert.
Vieles wird anders, in der Tat. Aber manches bleibt womöglich wie es war. Das Alte kehrt immer wieder zurück. Oder es ist nie ganz verschwunden. Es nistet den Nischen der rasenden Veränderung, und plötzlich bricht es wieder hervor.

Trends, die rasend in einer Richtung verlaufen, ändern plötzlich ihre Richtung. Und erzeugen das Gegenteil:
Globalisierung erzeugt wütende Heimatsuche.
Beschleunigung erzeugt Stillstand und Stau.
Individualisierung führt zur Sehnsucht nach Gemeinschaft.

Indigene Kulturen mit einem ganz anderen Zeitbegriff existieren immer noch auf unserem Planeten. Tribale und nomadische Stammes- Gesellschaftsformen kehren INNERHALB der modernen Gesellschaft zurück – als Neo-Nomadentum, Verschwörungs-Sektenwesen oder aggressiver Mob.
Zivilisationen sind dann erfolgreich und resilient, wenn sie die schnellen Veränderungsprozesse mit den langsamen Prozessen synchronisieren können. Dabei geht es auch um die »produktiven Reibungen«, die zwischen den verschiedenen Ebenen entstehen. Stewart Brand formulierte das so:

„Jede Ebene muss die differente Geschwindigkeit der anderen Ebenen respektieren. Wenn Wirtschaft, der Kommerz, von der Politik und der Kultur erlaubt bekommt, die Natur in einer „kommerziellen“ Geschwindigkeit voranzutreiben, dann werden wir unsere unterstützenden Wälder, Fischgründe und Quellen verlieren. Wenn der Kommerz völlig ungehindert von staatlicher Wachsamkeit und Kultur ist, wird er leicht zum Verbrechen, wie in einigen Nationen nach dem Fall des Kommunismus. Ebenso sollte die Wirtschaft die die tieferen, langsameren Ebenen nicht kontrollieren, sondern eher instruieren – denn sie ist selbst viel zu kurzsichtig. Einer der großen Stressfaktoren unserer Zeit ist die Beschleunigung, die die Wirtschaft durch Globalisierung und die digitalen Netzwerk-Revolutionen erfährt. Die richtige Rolle des Kommerzes ist es, solche Schocks sowohl zu nutzen als auch zu absorbieren, indem sie Teile der Auswirkungen und Steigerungen auf neue Infrastrukturen umlenkt, aber die tieferen Rhythmen von Politik und Kultur respektiert…”

Each layer must respect the different pace of the others. If commerce, for example, is allowed by governance and culture to push nature at a commercial pace, then all-supporting natural forests, fisheries, and aquifers will be lost. If governance is changed suddenly instead of gradually, you get the catastrophic French and Russian revolutions. In the Soviet Union, governance tried to ignore the constraints of culture and nature while forcing a five-year-plan infrastructure pace on commerce and art. Thus cutting itself off from both support and innovation, it was doomed.
If commerce is completely unfettered and unsupported by watchful governance and culture, it easily becomes crime, as in some nations after Communism fell. Likewise, commerce may instruct but must not control the levels below it, because it’s too short-sighted. One of the stresses of our time is the way commerce is being accelerated by global markets and the digital and network revolutions. The proper role of commerce is to both exploit and absorb those shocks, passing some of the velocity and wealth on to the development of new infrastructure, but respecting the de eper rhythms of governance and culture.

Mode und Kunst sind für die schnellen vitalen Impulse zuständig. Politik hat auch die Aufgabe, die Gesellschaft zwischen Zukunft und Gegenwart auszubalancieren. Kultur ist auch die Sphäre des Gewachsenen.
Wenn Wirtschaft zu schnell wird, entwickelt sie »crashs«.
In Krisen-Zeiten können die verschiedenen Ebenen des Wandels wie ein Puffer wirken. „Einige Teile reagierten schnell auf den Schock, und ermöglichen dabei den langsameren Teilen, den Schock zu ignorieren und ihre stabilisierenden Funktionen für das Gesamtsystem aufrecht zu erhalten.“, so Stewart Brand.
Freeman J. Dyson, der visionäre Philosoph und Mathematiker des 20. Jahrhunderts, sprach von den sechs „Imperativen des Überlebens auf unterschiedlichen Zeitskalen“, die das menschliche Leben durchdringen:

  • Auf der Skala des Jahres ist die Einheit das Individuum.
  • Auf der Skala des Jahrzehnts ist die Einheit die Familie.
  • Auf der Skala des Jahrhunderts ist die Einheit der Stamm oder die Nation.
  • Auf der Skala des Jahrtausends ist die Einheit die Kultur.
  • Auf der Skala der Äonen ist die Einheit das Netz des Lebens auf dem Planeten.

„Jedes menschliche Wesen“, schreibt Dyson, „ist das Produkt der Anpassung an die Dimensionen aller sechs Zeitskalen. Deshalb liegen konflikthafte Loyalitäten tief in unserer Natur. Um zu überleben, müssen wir loyal zu uns selbst, unserer Familie, unserem “Stamm”, unserer Kultur, unserer Spezies UND unserem Planeten sein.“

Alle Zitate aus: PACE LAYERING: How Complex Systems Learn and Keep Learning.
jods.mitpress.mit.edu

“Civilizations with long nows look after things better. In those places you feel a very strong but flexible structure which is built to absorb shocks and in fact incorporate them.”
Brian Eno

5. Die Perspektiven der AHNEN

Stellen wir uns vor, in 1.000 oder 10.000 Jahren würden immer noch Menschen leben. Menschen, die sich mit der Frage beschäftigen, was Leben und Zukunft eigentlich bedeuten.
Die hoffen, lieben, zweifeln und wünschen.
Die hin- und hergerissen sind zwischen utopischen Wünschen und der tragenden Kontinuität.
Die immer noch sterblich sind, und deshalb angewiesen auf Zeit und Rhythmus, und Verbundenheit.
Stellen wir uns vor, wir könnten mit diesen Menschen von heute aus in Verbindung treten.
Die Lange Zeit, die vor uns liegt wäre kein Abgrund. Sondern eine Brücke.

Nehmen wir die Position der AHNEN ein.
In der Ahnen-Position – oder der Bewusstseinsstufe des Langen Jetzt – stellen wir uns vor, im Jahr 3000 einem Nach-Fahren zu begegnen, mit ihm in Verbindung zu treten. Womöglich wäre dieser Mensch gar nicht viel anders als wir. So, wie wir uns wahrscheinlich auch mit Menschen aus dem 18. Jahrhundert oder dem Mittelalter, oder sogar der Steinzeit, verständigen könnten, wenn wir ihnen begegnen würden.
»Ahnendenken« überschreitet den Abgrund der Zeit und besteht im tiefen Erkennen, dass wir diejenigen sind, die die Zukunft verursachen. Dadurch wird unser Leben in einen anderen Kontext, eine reale Perspektive gestellt. Wir sind jetzt nicht mehr gefangen und unterjocht von Rasenden JETZT. Unsere Sterblichkeit wird zumindest relativiert.
Die Zukunft wird von einem bedrohlichen Menetekel, einer von uns abgetrennten Nicht-Wirklichkeit, zu einem Möglichkeitsraum, den wir mit-verursachen.
Auf den wir eine Wirkung haben.

„Jede Form der Zivilisation ist ein weises Gleichgewicht zwischen fester Substruktur und aufsteigender Freiheit.”
“Every form of civilization is a wise equilibrium between firm substructure and soaring liberty.”
Eugen Rosenstock-Huessy

Das Kathedralen-Denken

Der Philosoph Roman Krznaric hat in seinem Buch „The Good Ancestor“ die „Sichtweise des Ahnen“ als neue Superposition des Denkens und Handelns vorgeschlagen. Er hat einige Elemente beschrieben, die zu dieser Sichtweise gehören, und die auf dem Weg der Zivilisation „in Richtung Zukunft“ hilfreich sein könnten.

Im Mittelalter bauten Menschen Dome, Klöster, Kathedralen über Jahrhunderte und Generationen hinweg. Das gab ihren Gemeinschaften einen Sinn, eine Ausrichtung auf das Morgen, eine VISION und gleichzeitig TRADITION. Viele Gebäude der Menschheit entstanden auf diese Weise: Sie schufen die Gefäße für neue, komplexere Gesellschaftsformen.

Wie wäre es, wenn wir das Generationenprojekt der Dekarbonisierung als neue Kathedrale definieren? Dies könnte auch den unsinnigen Streit darüber beenden, ob nicht „alles schon zu spät“ ist, und die „Menschheit sowieso keine Zukunft hat“. Kathedralen baut man langsam, Stein für Stein, über Generationen hinweg. Mal gehen die Steine aus, mal die Steinmetze, mal der Zement. Aber man wird die Bauarbeiten immer wieder aufnehmen. Wenn die Zeit drängt, kann man auch schneller bauen. Die Pyramiden wurden in wenigen Jahren errichtet, und dauern schon Jahrtausende. Kathedralen weisen über ihr Einweihungsdatum hinaus.

Der Kern des Ahnendenkens ist die Verantwortung. Aber Verantwortung muss nicht SCHULD heißen. Wir sind unseren Nachkommen nicht etwas »schuldig« im Sinne von Buße oder vorauseilender Reue. Das Wort »Antwort« in Verantwortung sagt, dass wir Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart finden müssen und können. Es geht damit eher um INVESTITIONEN in die Zukunft – geistige, materielle, kognitive. Den Möglichkeitsraum ausweiten statt verkleinern Aber eben auch für uns selbst. Wer möchte schon in einer Gegenwart leben, die in Richtung Zukunft geschlossen ist wie eine Ölsardinenbüchse?
Es gibt bereits funktionierende Tools für eine solche über-generative Politik. Finnlands „Komittee für die Zukunft“ wurde 1993 etabliert. Das Gremium aus 17 gewählten Vertretern bewertet regelmäßig Dossiers in Bezug auf Arbeit, Technologie, Demographie, Umwelt in Bezug auf die aktuelle Politik. Ungarn hatte zwischen 2008 und 2012 einen Ombudsmann für zukünftige Generationen mit erheblichem Einfluss auf die Umweltpolitik. Schweden etablierte 2005 einen „Council for the Future“, deren Präsidentin Kristina Persson als erste Zukunfts-Ministerin bekannt wurde. Die Vereinigten Arabischen Emirate verfügen über ein eigenes Ministerium für „Entscheidungen und Zukunft“. Seit 2015 existiert der Zukunfts-Kommissar-Posten von Wales. Derzeit wird diese Leuchtturms-Funktion von einer Zeit-Rebellin ausgeübt, Sophie Howe, eine Kämpferin für intergenerationale Gerechtigkeit, die mit 21 Jahren in ihr Amt gewählt wurde.

Die Zeit-Rebellion
Man kann das Langzeit-Denken als eine Art Zeit-Rebellion begreifen: Gegen die Tyrannei des Jetzt, den Terror der Beschleunigungen, die Verengung der Zeit auf den puren Erregungs-Wahn.
Entschleunigungs-Techniken gibt es seit Jahrtausenden in vielen Kulturen der Welt. Das Fasten und das Meditieren, die Kontemplation und der Weltrückzug. Auch Rituale haben einen Zeit-erweiternden Charakter.
Die Uhr des Langen Jetzt ist ein weiteres Element der entschleunigenden Geistesübung, vergleichbar mit der Meditation. In der rasenden Jetztzeit sind wir alle auf eine seltsame Art und Weise existentiell einsam geworden. Jeder lebt nur noch in seiner temporären Blase. Das heutige Endzeit-Denken ist vielleicht nur das: Das Gefangensein in einer Selbstbezüglichkeit, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint.
Lauschen wir also dem Ticken der Uhr, die vielleicht 10.000, oder auch 100.000 Jahre schlagen wird. Atmen, denken, fühlen wir hinein in das, was uns mit Zukunft und Vergangenheit verbindet. Weit über unsere Lebenszeit hinaus. Können sie das spüren? Die Einmaligkeit, aber auch Aufgehobenheit unseres Lebens in der langen Zeit, die vor uns hinter uns liegt, die uns umgibt und in die Zukunft trägt?
Versuchen sie es einmal. Es ist verdammt schwer. Und gleichzeitig ganz einfach. Es ist die Entdeckung der Zukunft in uns selbst.

Die hypervernetzte Kultur, in der wir heute leben, schrumpft alles auf eine verdichtete, glühende Gegenwart zusammen. Reize und Erregungen und Ängste übernehmen die Macht über unser Leben. Aber was unser Leben ausmacht, und die Zukunft erst möglich, sind die langsamen Zeitströme. Die tiefen Prozesse, auf die wir uns verlassen können.

Die Dimension der Zukunft ist die kostbarste Ressource des Menschen. Wenn wir die Zukunft an die Gegenwart verlieren, geraten wir in eine schreckliche Erschöpfung, eine Future Fatigue – die Ermüdung der Zukunft.

Wenn wir uns als Erben UND Ahnen begreifen, verschwindet die Hysterie der Gegenwart. Wir sind dann Teil einer langen, spannenden Story. Wir sind mit den Menschen der Vergangenheit und der Zukunft verbunden. Wir leben, denken und fühlen überzeitlich.

Videos:

The Clock of the Long Now: https://www.youtube.com/watch?v=w9uM6BBKfO8

Weitere Videos auf YouTube: www.youtube.com



Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: www.zukunftsinstitut.de